Patrik Etschmayer / Dienstag, 4. November 2014
Flüchtlinge, Ebola, US-Kongresswahlen, Ecopop und Flüchtlingsboote, vom IS erst gar nicht zu reden: In den news und den Köpfen der Bürger herrscht Panikstimmung. Angst bestimmt das Sein und der Wunsch nach der «guten alten Zeit», als noch alles gut war, durchweht den Zeitgeist.
Jedes Zeitalter hat seine Krisen. Oder seine eingebildeten Krisen. Und früher war immer alles besser. Ist ja eh klar. Anders lässt sich nicht das Sehnen nach geschlossenen Grenzen, nach Isolation und dem Schmoren im eigenen Saft erklären. Und fast überall in Europa - nicht nur in der Schweiz - ist fast allen klar, wer an allem Schuld ist: Die Ausländer.
Was irgendwie interessant ist. Denn sind die «Ausländer» nicht eher ein Symptom und werden sie nicht vor allem Deswegen als Problem wahrgenommen, weil die anderen Rahmenbedingungen immer schlechter werden, aber scheinbar nicht zu beeinflussen sind?
Denn was ist der wirkliche Zustand? Wo sind die echten Ursachen? Wer die Geschichte betrachtet wird feststellen, dass akute Situationen ihre Wurzeln in Ereignissen haben, die zum Teil Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte zurück lagen. Die kurzatmige Panikpolitik, die derzeit auch hier so populär ist (MEI, Ecopop, Goldinitiative) ignoriert die Ursachen der gegenwärtigen Krisen, die bis in den eigentlichen Kolonialismus, aber auch in den während dem kalten Krieg geführten Nach-Kolonialismus zurück reichen.
Wobei es hier nicht darum gehen soll, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, was koloniale Gräuel angeht und auch nicht darum, was unsere Nationen einst jenen in der dritten Welt angetan haben, sondern darum was jene Zeit unseren Psychen - und zwar durchaus kollektiv - angetan hat und welche Kränkung das alte Europa nun in die mentale Isolation treibt.
Denn genau das sind wir: Gekränkt, nicht mehr die Herrenrasse zu sein. Begonnen hat unser Schlamassel mit dem Ende des Kalten Krieges. Sicher, es war an sich wunderbar: Endlich hing nicht mehr konstant das nukleare Damoklessschwert über unseren Häuptern. Sirenen-Übungen wurden nicht mehr von dem Bewusstsein begleitet, dass das nächste Mal bei diesem Ton womöglich das Ende der Menschheit anstehen würde. Das war gut. Doch wer damals genau hinhörte, nahm auch ein gewaltiges Knirschen und Knarren im Gletscher der Zeitgeschichte war, ein Mahlen und Stöhnen, das aus der eisigen Erstarrung von 50 Jahren kaltem Krieg heraus drang und jedem, der hören wollte, mitteilte, dass die Geschichte sich nun wieder in Bewegung setzte. Von einem «Ende der Geschichte» (ein Spruch der auf Grund des gleichnamigen, damals publizierten Buches des Politologen Francis Fukuyama sehr populär war), konnte nicht die Rede sein. Im Gegenteil.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die USA und Europa für Jahrhunderte die Zentren der Geschichte gewesen, die Orte, von denen die Impulse ausgingen. Doch diese Dominanz begann 1989 zu bröckeln. Die Welt wurde nicht mehr durch den thermonuklearen Winter in einer Klammer der globalen Angst gehalten. Und das Kapital, das als «Friedensdividende» hätte befreit und an die Menschen verteilt werden können, wurde sogleich und mit grosser Konsequenz an die neue und nun einzige Grossmacht weiter verteilt, in die Finanzmärkte mit den von nun an praktisch grenzenlos wachsenden Multis.
Gleichzeitig wurden wir Europäer, die doch die Welt mit unseren Ideen und Erfindungen, mit unseren Innovationen und Kanonen dominiert hatten, an den Rand der Geschichte gedrängt. Natürlich, wir waren im Vergleich mit der Welt noch Reich. Doch unsere Goldgruben waren uns mit der Entkolonisierung abhanden gekommen und Grossbritannien und Frankreich fielen daher noch tiefer. Die Musik begann, im pazifischen Raum zu spielen, während die bis dahin halbwegs stabilen Pulverfässer im nahen Osten wirklich los gingen... und wenn sie dies nicht von selbst taten, wurde - allen voran von den USA - im Interesse der grossen Wahlkampfspender fröhlich gezündelt.
Der Primat der Machtsicherung wich jenem der Gewinnmaximierung und die Interessen des Marktes verdrängten die der Politik: Demokratie zu verbreiten, ist zum reinen Propagandawort verkommen. Und wenn ein solches unterfangen scheitert, tragen Menschen und Staaten die Kosten. Nicht jene, die hinter den Kulissen lobbyieren liessen.
Unterdessen fand sich das einst grossmächtige Europa in klein-kleinem Gewurstel wieder, in einer EU, in der die nationalen gegen die kontinentalen Interessen ausgespielt und in der die eigenen hart erworbenen humanistischen Wurzeln vergessen - oder eher verdrängt? - wurden. Die Menschen fanden sich hier eingeklemmt zwischen von der Wirtschaftselite aufgedrängten «Sachzwängen», mit welcher der seit nun fast zwanzig Jahren herrschende Lohnstopp erklärt wird und ständig steigenden Sozialkosten, die wegen der Steuerentlastung der hohen Einkommen und der Steuertricks der Grosskonzerne immer mehr auf die Schultern jener geladen wurde, die ohnehin wenig haben.
In all dies schiebt sich die Realisation, nicht mehr am Nabel der Welt zu sein, und nicht mehr allen anderen sagen zu können, was zu laufen hat. Dieses Sehnen nach der einstigen Macht zeigt sich ja nicht zuletzt in der Verhütungskomponente in der Ecopop-Initiative, in der doch bitte im nahmen der Nachhaltigkeit Geld nach Afrika geschickt werden soll, damit sich die «Negerli» weniger stark vermehren. Wie würde es wohl den beleidigten Leberwürsten von Ecopop-Befürwortern gefallen, wenn in Ghana eine Abstimmung gemacht würde, in der gefordert wird, dass wir Europäer nicht mehr hemmungslos Rohstoffe verschwenden und so Bürgerkriege und Genozide in Afrika förderten und dies uns dann in unseren ebenso festlich wie unnötig geschmückten Shopping-Zentren von afrikanischen «Nachhaltigkeitshelfern» verkündet würde? In etwa gleich irr, wie Schweizer Pariser in Zentralafrika zu verteilen.
Ja, wir befinden uns zweifelsohne in geschichtlich turbulenten Zeiten. Wie vor hundert Jahren. Auch damals waren Isolationismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit top. Auch damals wurden die Ausländer beschuldigt, an allem schuld zu sein und Konfrontation als ultima ratio der Tagespolitik betrachtet. Und wie wir wissen, ist das ja alles sehr toll ausgegangen. Denn das war die gute, alte, isolationistische Zeit. Scheinbar herrscht Lust auf eine Wiederholung.