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J’accuse, ich klage an!

Voltaire hat ein Gedicht geschrieben, Kant eine Abhandlung und Stämpfli schreibt eine Anklage. Lesen Sie über die politisch-philosophischen Konsequenzen von Naturkatastrophen.

Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 16. März 2011 / 09:11 h

1755 war Lissabon kein schläfriges Provinznest, sondern die Königin der Meere. Das Erdbeben selbst suchte die Stadt am Morgen des 1. Novembers heim und dauerte zehn Minuten. Tausende von Menschen wurden unter den Trümmern begraben und der Himmel mit einer Staubwolke bedeckt. Dann folgte das Feuer und legte grosse Teile der Stadt in Schutt und Asche. Noch während die Brände wüteten, zerstörten die Flutwellen den Hafen und ertränkten die Tausenden von Menschen, die am Rande des Meeres Schutz vor dem Feuer gesucht hatten. Klingt also alles bekannt und ist in Japan aktuell, mit dem Unterschied, dass, dank glücklicher Umstände, die Natur nicht direkt auf Tokio Kurs genommen hat, sondern sich im Nordosten austobte. Dafür nimmt nun die von Menschenhand

veränderte

Natur Kurs auf Tokio, im Wind und später in den Fischen und der verstrahlten Ernte. Der grosse Aufkärer Voltaire schrieb zu Lissabon ein Gedicht mit dem Aufschrei: «Philosophes trompés, qui criez: ′Tout est bien′» - «Betrogene Philosophen, die ihr ′Alles steht zum besten′ schreit»! Lissabon erschütterte nicht nur die Aufklärungsphilosophie, sondern

alle

namhaften Denker in ihren Grundfesten. Immanuel Kant schreibt sein Entsetzen im Aufsatz mit dem leichtverdaulichen Titel: «Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen grossen Theil der Erde erschüttert hat» nieder. Der erschütterte Knabe Wolfgang Goethe verfasst in gestandenden Mannesalter die wohl poetischste Beschreibung des Erdbebens von Lissabon: «Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien».

In Lissabon starb der christliche Gott – in Fukushima der technokratische

Es ist als ob Goethe am 11. März 2011 an der japanischen Küste dabei gewesen wäre. Trotzdem ist 2011 alles anders als 1755, obwohl sich die Naturereignisse als solche nicht wesentlich unterscheiden. Die Erde bebt und damit basta. Doch 2011 gibt es keine Gedichte mehr. Es gibt auch keine Philosophen, die irgendwas Gescheites sagen könnten. Japan findet nur Niederschlag in einem umfangreichen technischen Nihilismus, der uns alle gefangen hält. War Lissabon Auftakt für das Nachdenken über die Natur des Bösen oder das Böse der Natur, verkriechen wir uns hinter Grafiken, grässlichen Tsunami-Videos (Kant würde sich im Grabe umdrehen) und fühlen uns macht-, hilf-, sprach- sowie einflusslos. Genau das ist die Absicht der Techniker von TEPCO, Mühleberg, Leibstadt etc. Sie wissen zwar nicht wirklich, was sie tun, aber sie wissen, was sie tun, sagen, konstruieren müssen, um uns angesichts der Verbindung von Natur und Technik zu stummen Menschen zu machen. Kein Gedicht könnte die Mitmenschen mehr erschüttern, zu sehr sind sie schon in einer numerisch-technischen Ideologie gefangen, als dass sie sich noch durch den Klang vergessener Menschlichkeit wirklich berühren lassen möchten. Eine Naturkatastrophe kennt keinen internationalen Gerichtshof. Eine Naturkatastrophe ist nicht einfach böse, sondern sie ist, wie sie ist, eine Erdmantelverschiebung, so what!

Bald schon wird wieder 'business as usual' gerufen

Genau das ist auch die Katastrophe der Katastrophe von Japan. Brachte Lissabon den Aufklärern ins Bewusstsein, dass der Graben zwischen Natur und Mensch so unendlich weit ist, dass es Gott nicht wirklich geben kann, bringt uns Japan nicht einmal die Worte über den riesigen Graben von Mensch zu Mensch. Weil dieser Graben mit Öl, Pharma, Derivaten so zugekleistert wird, dass wir nur achselzuckend, zynisch, vielleicht bald auch ein bisschen verstrahlt vor unserem Bildschirmen sitzen. Lissabon erschütterte die Theologen, die heute über keine Sprache mehr verfügen, die ernst genommen werden kann, in ihren Grundfesten oder wie ein Facebook-Kommentar dieser Tage treffend meint: «Der Papst betet für Japan.



Fukushima: Katastrophe aus Menschenhand /

Ist schon der Hammer, wenn der eigene Boss die Welt in Schutt und Asche legt!» Japan erschüttert alle und damit keinen so wirklich. Sehr bald wird schon nach Business as usual gerufen, Sie werden es mit Entsetzen sehen. Dabei: Das Erdbeben in Japan war zwar Natur, doch die Verstrahlung der Erde ist ausschliesslich technisch, damit menschen- und politikgemacht. Die sich jetzt abzeichnende, auf Tausende Jahre hinaus wirkende Verstrahlung der Erde und der Menschen unter «shit happens» technisch abzuhaken, zeigt den technokratischen Denkapparat, dem wir schon seit Jahrzehnten angeschlossen sind. Die Kernschmelze in den diversen japanischen Reaktoren sind das klassische Böse. Hier so zu tun, als sei dies halt in der Natur der Dinge, der Menschen oder der Natur der Natur, ist menschen- und weltvernichtend. Was jetzt in Japan passiert ist kein Unfall, kein Missgeschick, kein unglückliches Zusammentreffen unterschiedlicher Ereignisse, sondern ist das direkte Resultat einer herrschenden Klasse, eines herrschenden Wirtschafts- und eines herrschenden Denksystems, kurz einer herrschenden Elite.

Japans Erdbeben ist Schicksal, Japans Verstrahlung ist gemacht.

Wer jetzt nur von Schicksalsschlag redet, will die Verantwortlichen der Verantwortung entziehen. Das hatten wir ja schon mal. Mit etwas weniger direkt sichtbaren, dafür für die grosse Masse der Menschheit ebenso verdammt schmerzlichen Folgen: Bei der Finanzkrise. Auch da tat man so, als sei ein Tsunami über die gut funktionierenden Anlagen der Wallstreet hinweggefegt. Dabei waren es die Anlagen der Wallstreet, die eben schon fehlerhaft konzipiert, gewartet und weiter in Gang gehalten werden. Reaktoren werden aus Kostengründen zu nah ans Wasser gebaut. Reaktoren werden aus Kostengründen schlecht gewartet. Reaktoren werden aus Kostengründen zu lange am Netz behalten. Reaktoren genügen aus Kostengründen den Sicherheitsbedingungen nicht. In den Reaktoren werden aus Kostengründen billige Arbeitskräfte angestellt, die von den technischen Abläufen wenig Ahnung haben, etc. Natur und Schicksalsschlag? You must be joking! Hier entwickelt sich ein System mit Bildern, Begriffen, herrschenden Politiken, führenden Wirtschaftsinteressen. Viele sehen das, auch um das Wissen solch mächtiger Interessenbindungen ist es nicht schlecht bestellt und trotzdem: Ändern tut sich nichts.

Technik ist neutral – eingebettet in eine böse Ideologie

Die Technik ist nicht böse, sie ist neutral. Abgrundtief böse ist indessen ihre Einbettung in eine Ideologie, welche die Hexenverbrennungen der Katholischen Kirche wie eine Haribo-Gummibärchen-Veranstaltung wirken lässt. Nach Lissabon wurde der damals noch mächtige Gott angeklagt mit dem Resultat, dass ihn Friedrich Nietzsche endlich für tot erklären konnte. Nach Japan klage ich ebenfalls an. Den jetzt herrschenden Gott! Dieser Gott ist ein vielarmiges Monster und setzt sich aus einem Netz von Wissenschaft, Werbung, Wirtschaft, Pharma, Technik, Rating, Macht und Kosten etc. zusammen. Jedesmal wenn brutal ein Arm abgeschlagen wird, wie bei der Finanzkrise, wachsen zwei neue Arme nach. Japan wurde brutal erschüttert. Dabei hat Japan seinen Atomarm so verloren, dass er noch auf Jahrzehnte hinaus strahlen wird. Trotzdem wachsen der Deutungshoheit des Monsters mindestens wieder zwei nukleare Arme nach. Was bleibt mir den noch anderes übrig, da ich über kein verspiegeltes Schild, über keine Tarnkappe von Nymphen geliehen und schliesslich über kein mit Gorgonenblut getränktes Schwert verfüge? Ich klage an.

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