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Demokratie mit chinesischen Besonderheiten

Peking gibt in Hongkong den Ton an. Für die geplante Direktwahl des Regierungschefs im Jahre 2017 sollen nur handverlesene, «patriotische» Kandidaten zugelassen werden. Ist Hongkongs Sonderstatus «Ein Land - Zwei Systeme» in Gefahr?

Peter Achten / Quelle: news.ch / Montag, 8. September 2014 / 13:46 h

Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping hatte kurz nach Beginn der Wirtschaftsreform anfangs der 1980er-Jahre den Traum aller chinesischen Kaiser geträumt, der Traum vom vereinigten China. Dazu gehört unter anderem Hongkong. Die Finanz- und Wirtschaftsmetropole im Süden des Reichs der Mitte ist von besonderer nationaler Bedeutung. Die Briten eigneten sich 1842 nach dem ersten Opiumkrieg den «nackten Felsen», wie der britische Aussenminister Lord Palmerston Hongkong 1841nannte, «auf alle Ewigkeit» an. Das Territorium wurde nach einem zweiten Opiumkrieg am Ende des 19. Jahrhunderts noch erweitert. Der Vertrag von 1842 und alle weiteren von den Imperialisten diktierten Abkommen gingen als «ungleiche Verträge» in die Geschichte ein. Als Mao am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China vom Tor des Himmlischen Friedens in Peking verkündete, war das «Jahrhundert der Schande und der Demütigungen» beendet. Deng, ein glühender Bewunderer des Strategen Sun Tse, erdachte zur Rückkehr Hongkongs in den Schoss des Mutterlandes eine neue Formel, um die eben heute heftig gestritten wird: Ein Land - Zwei Systeme. Der Hintergedanke dabei: auch Macao, seit dem 16. Jahrhundert eine portugiesische Kolonie, soll so zurück ins Reich der Mitte geholt werden. Der ganz grosse Preis freilich erhoffte sich Deng mit Taiwan. Hongkong und Macao sollten den Taiwanesen auf der von den Chinesen als «abtrünnige Provinz» apostrophierten Insel vor Augen führen, dass nach einer Wiedervereinigung mit dem Festland auch die demokratischen Institutionen beibehalten werden können.

Deng Xiaoping konnte anfangs der 1980er-Jahre die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher vom neuen Konzept überzeugen, obwohl ja die «eiserne Lady» eine bekennende Nationalistin und knallharte Verhandlerin war. 1984 wurde eine «Gemeinsame Erklärung» (Joint Declaration) verabschiedet, die Hongkong einen «hohen Grad an Autonomie» garantierte und die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China auf 1997 festsetzte. Auf Grundlage der Erklärung wurde ein Grundgesetz (Basic Law) ausgearbeitet, das nach dem Prinzip «Ein Land - Zwei Systeme» Hongkong als Sonderverwaltungsregion erklärte, die fünfzig Jahre lang ihr politisches, wirtschaftlich-kapitalistisches, soziales und rechtliches System beibehalten darf. Alles natürlich als «integraler, unveräusserlicher Teil Chinas».

Hongkong kann also unter einem Sonderstatus innerhalb Chinas bis 2047 nach dem britischen Rechtssystem regiert werden, geniesst weiterhin Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit und verfügt über eine eigene Währung. Von Demokratie war natürlich nicht die Rede. Der Grund ist einfach: während über 150 Jahren gewährten die Briten der Bevölkerung der Kronkolonie keinerlei demokratische Mitsprache. Der letzte, 28. Gouverneur Chris Patten führte dann, kaum im Amt, eine «Last-Minute-Demokratie» ein. «Demokratie durch die Hintertür», wie damals erboste Chinesen das Vorgehen der schlaumeiernden Imperialisten interpretierten. Chris Patten wurde von der chinesischen Propaganda als Clown, Schwindler, ja sogar als «Hure des Orients» verunglimpft.

Der Blick zurück zeigt, warum heute, 17 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs zum Mutterland, eine schwierige Debatte stattfindet. Es geht um die auch von Peking versprochene allgemeine Volkswahl des Regierungschefs der Sonderverwaltungsregion. Bislang wurde er durch ein Wahlkomitee - bestehend zunächst aus 400, bei der letzten Wahl 2012 aus 1200 Mitgliedern - bestimmt. Das Wahlkomitee setzte sich zusammen aus Vertretern von Gewerben, Wirtschaft, Handel und Finanzen. Unbestritten ist bei der nächsten Wahl 2017, dass das Volk das Sagen hat. Freilich gehen die Meinung der Demokraten und einer ziemlich breit abgestützten Protestbewegung auf der einen Seite und Peking und die in Hongkong bestimmenden Wirtschaftskreise auf der andern Seite in einer zentralen Frage weit auseinander. Wer darf Kandidat sein? Wer bestimmt die Kandidaten?

Die demokratischen Kräfte im Parlament (Legco) sind der Meinung, dass Kandidaten auf demokratische Art ausgewählt werden müssen. Unterstützt werden diese Kräfte durch eine ziemlich aktive Protestbewegung.



Protest in Hongkong im Juli 2014: «Neue Ära des Widerstandes.» /

Nach dem Vorbild westlicher Städte hat eine vor allem aus Studenten und jungen Menschen bestehende Organisation, «Occupy Central with Love and Peace», sich vorgenommen, das zentralen Finanz- und Wirtschaftszentrum Hongkongs mit Aktionen des zivilen Ungehorsams lahmzulegen. Einer der Gründer der Occupy Central Bewegung, Benny Tai Ziu-ting, sprach von einer «neuen Ära des Widerstandes». Im Juli gingen Zehntausende auf die Strasse, um sich für ein faires, demokratisches Wahlverfahren einzusetzen. Ein Internet-Referendum, an dem sich 800'000 Hongkonger beteiligt haben sollen, hieb in die gleich Kerbe.

Peking hatte schon anfangs Jahr zum ersten mal seit 1997 ein «White Paper» veröffentlicht, um seine Position klarzumachen. «Eine umfassende Jurisdiktion» Chinas über Hongkong wird unmissverständlich in Erinnerung gerufen und kritisiert, dass «einige Leute» in Hongkong in Bezug auf das Verständnis des Prinzips «Ein Land - Zwei Systeme» total verwirrt seien. Die in Peking erscheinende Tageszeitung «Global Times» - ein Ableger des zentralen Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung) - schrieb, die Hongkonger Demokraten hätten «unrealistisch Erwartungen», die es «auszulöschen» gelte, «mit Zwangsmassnahmen» wenn nötig.

Peking bleibt bei der Auswahl der Kandidaten für den Regierungschef 2017 bei der seit 1997 praktizierten Haltung. Die Kandidaten «müssen patriotischen sein und das Land lieben». Anfangs September hat der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses entschieden, dass alle Kandidaten von «mehr als der Hälfte der Mitglieder» eines «umfassend repräsentativen Nominierungskomitees» unterstützt werden müssten. Zwei, maximal drei Kandidaten werden dann dem Volk zur Wahl präsentiert. Die Demokraten und die Occupy-Central-Bewegung dagegen wollen die Kandidaten basisdemokratisch selbst bestimmen. Wer 35'000 Unterschriften sammeln kann, darf sich der Wahl stellen.

Li Fei, Abgeordneter des Nationalen Volkskongresse in Peking und zuständig für Hongkong, sagte vor einer Woche an einer Presskonferenz in Hongkong, eine freie Nomination von Kandidaten würde unweigerlich eine «chaotische Gesellschaft schaffen» und damit Harmonie, Stabilität und Wohlstand Hongkongs bedrohen. «Wenn wir nachgeben», sagte Li, «weil einige Leute mit illegalen, radikalen Aktionen drohen, dann wird das mit noch mehr und noch grösseren illegalen Aktionen enden». Die Worte Lis verweisen auch auf Ängste der chinesischen Führung. Seit den Tiananmen-Zwischenfällen 1989 fürchten die roten Mandarine Chaos wie der Teufel das Weihwasser beziehungsweise Marx, Engels und Lenin den Kapitalismus.

Die ganze Kontroverse kommt nun im Mini-Parlament Legco noch zur Diskussion. Es ist, wie die renommierte «South China Morning Post» in einem Kommentar schreibt, eine Take-or-Leave-it-Situation. Das 70-köpfige Parlament nämlich hat nur eine Wahl: den Pekinger Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen. Zur Annahme braucht es eine Zwei-Drittelsmehrheit. Da die demokratischen Parteien 27 Abgeordnete stellen, wird eine Annahme schwierig sein. Falls jedoch der Pekinger Vorschlag nicht durchkommt, bleibt alles beim alten. Wie gehabt wird dann wieder ein Peking-treues Komitee den Verwaltungs- und Regierungschef wählen.

Professor Wang Zhenmin, Hongkong-Berater der Pekinger Zentralregierung und Vorsteher der Rechtsfakultät der Pekinger Elite-Universität Tsinghua, meint auf Hongkong angesprochen trocken: «Keine Demokratie auf der Welt ist perfekt». Er spricht sich deshalb für den Pekinger Vorschlag aus mit dem schlagenden Argument: «Mehr ist weniger, weniger ist mehr». Im übrigen, fügte Wang hinzu, werden mit dem Pekinger Nominations-Vorschlag die Interessen der Kapitalistischen Klasse Hongkongs geschützt. Und in der Tat, die kapitalistische Klasse steht wie ein Mann hinter Peking. Asiens reichster Mann Li Ka-shing, der Immobilien Magnat Lee Schau-kee oder der Unternehmer Peter Woo haben sich gegen die demokratischen Parteien und Occupy Central ausgesprochen. Sogar einige westliche Unternehmen und vier grosse Wirtschaftsprüfung-Gesellschaften mit klingenden Namen äussern klar und deutlich ihre Ablehnung der demonstrierenden demokratischen Kräfte.Seit der klaren Meinungsäusserung Pekings vor einer Woche hat die Unterstützung der Occupy-Central-Bewegung in der Bevölkerung deutlich nachgelassen. Viele Bewohner und Bewohnerinnen Hongkongs haben offenbar ihren sprichwörtlichen Pragmatismus hervorgekehrt.

Wenn überhaupt, wird es also 2017 allgemeine freie Wahlen geben, allerdings ähnlich wie beim roten Festland-Kapitalismus «mit chinesischen Besonderheiten». Fest steht hingegen eines: das Prinzip «Ein Land - Zwei Systeme» hat sich offenbar in den letzten siebzehn Jahren leicht verschlankt und zum Prinzip «Ein Land - Anderthalb Systeme» entwickelt. Nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut. Und damit rückt Deng Xiaopings grosser Traum in weite Ferne. Die Rückkehr nämlich der «abtrünnigen Provinz» Taiwan ins Reich der Mitte.


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