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Leitbild für die digitale Landwirtschaft

Vor rund hundert Jahren begann die Industrialisierung der Landwirtschaft - heute erleben wir den Beginn ihrer Digitalisierung. Damit die Big-Data-Welle den Bauer nicht vom Acker schwemmt, sondern ihn optimal unterstützt, gilt es, das Feld früh zu bestellen und Marken zu setzen, damit die digitale Landwirtschaft die richtigen Fragen adressiert.

Prof. Achim Walter / Quelle: ETH-Zukunftsblog / Montag, 9. Mai 2016 / 09:42 h

Digitalisierung fasziniert: So begeistert wir in den vergangenen Jahren in unsere Smartphones schauten, um die witzigsten Videos und süssesten Katzenfotos zu teilen, so gebannt werden wohl künftig auch die jungen Landwirte ihre Digitalbrillen oder sonstige Geräte konsultieren, um relevante Analysen und Entscheidungshilfen für ihre Arbeit zu erhalten. Die Daten dafür könnten autonom fliegende Multicopter sammeln, die den Zustand des Feldes auf der Basis empirischer Formeln einstufen und quasi individualisierte Pflegetipps für einzelne Pflanzen liefern - in Bio oder konventionell. Darf's hier ein bisschen mehr Mist und dort ein wenig vom neuesten Insektizid sein? Soll die Tomate noch etwas länger dursten, damit das ideale Aroma reift? Zeigt die Temperatur von Kuh Lotte an, dass die Besamung erst am Nachmittag erfolgen sollte? Und genügt es, das Kraftfutter kommende Woche zu kaufen, wenn die Märkte sich beruhigt haben?

Die Automatisierungswelle schwappt aufs Feld

Solche Fragen stellen sich die «Siris» der Landwirtschaft bereits heute - wenn auch erst in Versuchsanlagen. Tatsächlich staksen sechsbeinige Roboter namens Prospero über Testfelder in den USA und legen einzelne Maiskörner dort ab, wo sich die Pflanze später besonders günstig im Verbund entwickeln sollte. Und Bonirob fährt schon seit längerem autonom über deutsche Felder, vermisst Pflanzen, beprobt den Boden und jätet Unkräuter, wenn sie die Hauptkultur stören.

Man braucht kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass sich auch die Landwirtschaft unaufhaltsam digitalisiert: Die Automatisierungswelle kommt - so sicher wie der Apfel sowohl im Paradies als auch bei Schneewittchen verzehrt werden musste. Zu verführerisch sind die Verheissungen der Technik, zu verlockend das Versprechen gesteigerter Effizienz.

Brauchen wir dazu eine Haltung?

Doch unsere Jahrtausende alte Erfahrung mit Äpfeln sollte uns vorsichtig stimmen. Nicht alles, wonach es uns zunächst gelüstet, bekommt uns am Ende gut. Gerade in der Landwirtschaft und der Ernährung sind Vielfalt und Abwechslung Trumpf - einfache, holzschnittartige Lösungsansätze zeigen meist recht bald erhebliche Schwächen. Nahrungsmittelproduktion ist enorm komplex: Millionen von Organismen beeinflussen in einem Liter Boden die Leistung der Kulturpflanze, die darauf wächst; Tausende von Inhaltsstoffen der Pflanze beeinflussen die Kuh, die sie frisst.



Vor rund hundert Jahren begann die Industrialisierung der Landwirtschaft - heute erleben wir den Beginn ihrer Digitalisierung. /



Achim Walter ist Professor für Kulturpflanzenwissenschaften an der ETH Zürich. /

Wir können das alles noch nicht in eine korrekte Formel packen. Aber ist das ein Grund dafür, keine Formeln aufzustellen?

Ich finde, nein. Die Frage ist vielmehr: Welche Formelwerke etablieren wir als nächstes? Soll die Digitalisierung kurzfristig die Kosten senken oder langfristig helfen, Umweltressourcen zu erhalten? Welchen Apfel soll sie uns schmackhaft machen? Im internationalen Vergleich ist unsere Landwirtschaft sehr nachhaltig; egal, ob ein Bio-Label draufsteht oder nicht. Und unsere Landwirte und Landwirtinnen sind hervorragend ausgebildet. Darum denke ich, wir sollten uns einmischen und heute entscheiden, welche Fragen die Technik von morgen adressieren und beantworten soll.

Big Data auf dem Hof - Bauer sucht Job?

Eine entscheidende Frage wird sein: Was bleibt dem Landwirt noch zu tun, wenn die Landwirtschaft digitalisiert und automatisiert ist? Degradiert er zum Hilfsknecht der Algorithmen und Maschinen, der die wenigen verbleibenden Handgriffe ausführt - oder erhält er eine neue Rolle? Ich glaube, er wird primär als technisch versierter Forscher gefragt sein: Neue Krankheiten werden kommen, fremde Organismen einwandern, Spezialfälle und technische Probleme auftreten. Der Landwirt muss zwar den Traktor schon bald nicht mehr selbst lenken, aber er wird auch in Zukunft noch oft auf dem Feld und im Stall stehen, um die Empfehlungen seiner Systeme zu überprüfen, sich um spezielle Aufgaben zu kümmern und das System interaktiv weiter zu verbessern.

Mehr Mut zur Komplexität

In der Medizin hat der technische Fortschritt bislang weder die Ärzte noch das Pflegepersonal wegrationalisiert, sondern dazu geführt, dass sich die Ärzte mit komplexeren Krankheiten beschäftigen können, während wir länger leben und oft lange gepflegt werden müssen. Vielleicht führt die Digitalisierung in der Landwirtschaft ja dazu, dass sich diese besser um ihre wichtigsten Protagonisten, die Pflanzen und Tiere, «kümmern» kann. Oder dazu, dass es mehr Mut zu Komplexität und Vielfalt gibt. Dass Zeit gewonnen wird, um neuen Herausforderungen zu begegnen. Oder dass Zeit bleibt, um andere Landwirte aus der Ferne zu beraten, die nicht denselben Zugang zu Bildung und Technik haben wie wir.

Zugegeben, so funktioniert die Welt eigentlich nicht. Aber wäre es nicht paradiesisch, wenn sie so funktionieren würde? Jetzt haben wir die Chance, Weichen zu stellen und in einem Leitbild festzulegen, was die Digitalisierung der Landwirtschaft bringen soll - statt umgekehrt abzuwarten, was sie aus der Landwirtschaft und damit aus uns machen wird.



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