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Wann beginnt das Barbarentum?

Als aufmerksame Staatsbürgerin bin ich immer wieder erstaunt, wie Sprache und Medien die Zusammenhänge über Recht und Unrecht, über Macht und Ohnmacht der Menschen, von einem Tag auf den anderen pervertieren. In den letzten Wochen passiert dies fast täglich.

Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 3. September 2014 / 14:12 h

Aus den Protesten für die Demokratie und das Verfassungsrecht in Ferguson USA werden «Aufstände», aus den islamischen Kriegern werden «Barbaren», aus dem Autoritätsstaat Ukraine wird die «Demokratie in Kiew», aus dem wichtigen Wirtschaftspartner Russland der «Aggressor», aus dem Waffenexport Deutschlands eine «Friedensmission». Für wie blöd halten uns eigentlich die Mainstream-Medien? Offensichtlich sehr und sie liegen dabei nicht falsch. Denn der Meinungsumschwung beispielsweise in der Ukraine-Frage und beispielsweise auf Facebook lässt sich mit jedem Post zu Anti-Russland-Propaganda und Pro-Nato-Rhetorik feststellen. Als ich 2012 anlässlich der Verurteilung von Pussy Riot mehrere fulminante Artikel gegen Putins Russland schrieb, schauten mich viele sogenannten Experten mitleidig an. «Wie naiv bist Du eigentlich?», meinten sie. «Mit solchen Zeilen würde ich an Deiner Stelle nicht nach Russland reisen» fuhren sie fort. Von links bis rechts waren sich die Blätter einig: Putin ist ein Übel, aber wenigstens ein notwendiges. Angesichts der russischen Homophobie und Homosexuellen-Paranoia beschwichtigen nicht nur die Sportredakteure oder die Sportler, wenn es um Olympia-Boykott ging, sondern in erster Linie die Mainstreammedien und die Staatsoberhäupter. Ich erinnere an die mutige und engagierte Schweizer Weltklasse-Skiläuferin Lara Gut, die als einzige Sportlerin und Bürgerin mit: «Man soll Spiele nicht an Orte vergeben, an denen es überhaupt nicht um Sport geht», Kritik wagte. Die äusserst begabte und attraktive Sportlerin wurde von den meisten Sportjournalisten und Politikjournalisten sofort als «Skihäschen» belächelt. Ich vermute, dass sie auch vom schweizerischen Skiverband unter Druck gesetzt wurde, sich künftig nie mehr zu politischen Themen äussern zu dürfen. Milo Raus «Moskauer Prozesse» trugen ihm ein Russland-Reiseverbot ein und die Schweizer Regierung hielt drückebergerisch die Klappe, obwohl eine wichtige Aufgabe der Regierung darin besteht, unbescholtene Schweizer Bürger im Ausland zu schützen. Fassungslos werden wir Bürgerinnen und Bürger nun via Staatsoberhäupter und Medien in den Krieg getrieben. Plötzlich ist Putin der Aggressor, der er übrigens schon immer war, aber jetzt plötzlich weggeräumt werden muss. Nun gibt es Sanktionen. Aber nicht etwa wegen der fehlenden Demokratie in Russland, sondern wegen der Interessenverletzung der USA in der Ukraine. Ausgerechnet die USA werden nun wieder von Europa hofiert, obwohl diese seit Jahrzehnten die Verfassungsrechte jedes europäischen und insbesondere jedes deutschen Bürgers verletzten. Obwohl die USA mit ihrem Privatisierungsfeldzug jedes Grundrecht der europäischen Menschen punkto Gesundheit, Bildung, Zugang zu Wasser, Kultur, Sprache, öffentliche Plätze etc. vernichten wollen. Doch das ist den europäischen Staatsoberhäuptern und den europäischen Medien egal. Denn wo muss die Demokratie gerettet werden? Und dringend? Richtig. In der Ukraine. Hmmm. Weshalb passiert dies nicht schon seit dem Fall der Mauer? Weshalb gerade jetzt? Ein Wort auch zu den plötzlich aufgetauchten «Barbaren» namens IS-Milizen. Auch hier konstatieren wir eine bemerkenswerte rhetorische Kehrtwende aller Beteiligten. Die «Krieger für den islamischen Staat» mutieren von den in den Koranschulen, im öffentlichen Diskurs und im Kampf der islamischen Religion gegen «Ungläubige» trainierten, insofern «ganz normalen» Muslimen rhetorisch zu «Barbaren».



Vladimir Putin: Plötzlich der Aggressor, der er eigentlich schon immer war. /

Dies ermöglicht es sofort, den am Aufstieg der Terrortruppe beteiligten Mächte (USA, Saudi-Arabien, Katar, Türkei, Finanzinstitute, deutsche und us-amerikanische Waffenindustrie etc.) zu verschleiern. Barbaren klingt wie «Aliens» - dabei sind sie schon längst Teil von uns allen. Die ISIS sind hausgemacht und zwar von allen Seiten. Zuvorderst sind sie im «ganz normalen» islamischen Umfeld grossgeworden und wurden von den «ganz normalen» Rohstoffinteressen des Westens gefüttert und badeten sich im «ganz normalen» Beliebigkeitsdiskurs des Westens. Die ISIS konnte immer darauf zählen, dass Recht und Unrecht mittlerweile durch Sprache und Machtpolitik derart ins Lächerliche gezogen worden sind, dass sie nie als das gelten werden, was sie in Tat und Wahrheit sind: Kämpfer für den islamischen Staat. Und ganz ähnlich wie die Bürgerlichen beim Aufstieg der Nationalsozialisten wurden sie von kapitalistischen und militärischen Interessen und offensichtlicher internationaler Rohstoffpolitik zunächst gefüttert, um jetzt als «Barbaren» als völlige Aussenseiter bekämpft werden zu dürfen. Es kommt noch die mediale Begleitmusik der postmodernen kulturellen Beliebigkeit hinzu, die gerade bei archaischem Frauenhass überall auf der Welt immer gerne auf kulturelle Vielfalt, Tradition und auf Minderheitenschutz beharrt (siehe sämtliche westliche Talkshows zu Burka, Scharia, Kopftuch und ähnlichem). Die Mainstreammedien und deren Staatsoberhäupter schaffen es aber immer wieder, die Rhetorik Freiheit und Demokratie zu bemühen, wenn es in Wirklichkeit nur um Macht, Rohstoffe und Krieg geht. Das Fieseste: Wir alle sollen dadurch nicht nur in Schach gehalten werden, sondern sollen diesen Schrott auch noch glauben! Weltpolitik wird in den Mainstreammedien in einen Narrativ gebunden, der Macht propagiert statt dekonstruiert. Die politische Gemengelage deutet wie 1968 auf die Niederschlagung jeden dritten Wegs für die Demokratie hin. Deshalb berichteten beispielsweise die Medien auch kaum über die grössten sozialen Demonstrationen in Tel Aviv (Israelis gegen die Regierung) im Jahr 2013. Denn da zeigten sich Bilder funktionierender Demokratie und wichtiger demokratischer Forderungen, die unter keinen Umständen propagiert werden durften. Dasselbe galt für die Proteste in der Türkei, die von den westlichen Medien ebenso hartnäckig verschwiegen oder lächerlich gemacht wurden wurden wie Erdogan die Demonstranten brutal wegräumte und jetzt einen umfassenden Wahlerfolg einheimste. Hier sind sich übrigens die Türkei, Ägypten, die USA, Russland, China, Saudi Arabien, Katar, Iran völlig einig: Die schon längst anstehende Demokratisierung der Welt soll mit aller Macht und Rhetorik verschwiegen, unterdrückt und für immer verunmöglicht werden. Letztlich geht es im Kern darum, Europa, d.h. Sie und mich und all unsere hier sozialisierten sogenannten Ausländerinnen und Ausländer, die nie mehr in ihr Heimatland zurückmöchten, als letztes sozialpolitisches und sozialstaatliches Modell mit öffentlichen Schulen, öffentlichem Gesundheitswesen, öffentlichen Wasserreserven, hoher Chancengleichheit, hoher Verteilungsgerechtigkeit, gut funktionierendem Rechtsstaat etc. von der Weltkarte zu tilgen. Alles, wofür Europa in der Nachkriegszeit während einigen Jahrzehnten stand, muss weg. Wie gesagt: Darin sind sich die Ekel dieser Welt inklusive «barbarische» Islamisten völlig einig und werden von einer Mainstream-Medienpolitik unterstützt, die Entpolitisierung und die Wechspülung für Diktaturen betreibt. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges meinte Max Horkheimer pointiert: «Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.» Damit wies er auf die mittlerweile dank Guido Knopps «Hitlerismus» völlig vergessene, enge Verknüpfung von Kapitalismus mit den Nationalsozialismus hin. «Wer vom Islam nicht reden will, sollte auch von der ISIS schweigen.» «Wer von Ölreserven nicht reden will, sollte auch vom amerikanischen Imperialismus schweigen.» «Wer von Freihandel nicht reden will, sollte von Morden an Gewerkschaftern schweigen.» «Wer von Rohstoffen nicht reden will, sollte von China schweigen.» «Wer von Investitionsschutz nicht reden will, sollte von Putin schweigen.» «Wer von Obama nicht reden will, soll von Barbarei schweigen.» Die europäischen Verfassungen sind zu garantieren. Die Meinungsfreiheit auch. Beides bedeutet, die Dinge nicht nur beim Namen zu nennen, sondern unser aller Verfassungsrechte durchzusetzen. Wir alle sind aufgefordert, unseren Teil mit klarer Sprache und dem Kampf für Verfassungsrecht zu leisten. «Kein Mensch hat ein Recht auf Gehorsam» (Hannah Arendt). Die Medien übrigens auch nicht.

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