von Regula Stämpfli / Mittwoch, 7. Juli 2010
Nun bin ich also mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder in irgendwelchen helvetischen Geheimdienstakten fichiert. Wie schon damals. Ob diesmal auch das Glas Weisswein erwähnt wird, welches ich nach einer Lesung über mögliche sowie notwendige Bild-Revolutionen zu trinken pflege? Vor 20 Jahren war mir Alkohol so fern wie den schweizerischen Spionen immer noch das geltende Recht.
Die DDR hatte die Stasi, wir hatten die Taubenstrasse.
Dort «wohnte» die Institution, die 900'000 Menschen bei damals ca. sechs Millionen Einwohnern unter staatsfeindlichen Generalverdacht stellte. Darunter Schülerinnen, Studenten, Lehrlinge wie Sie und ich dies einmal waren. Der Schnüffelstaat zerstörte während Jahrzehnten die fortschrittliche Schweiz und errichtete eine mentale Ruinenlandschaft ohne jemals eine Bombe werfen zu müssen. Den kleinkarierten Mief der damaligen Zeit kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Ausser man sitzt in der Nähe der heute so beliebten Talibans in Nadelstreifen, deren Mief ebenso kleinkariert, aber wenigstens nicht staatlich verordnet ist.
900'000 Menschen wurden von dem schweizerischen Geheimdienst erfasst. 900'000 Menschen. Jetzt sind es schon wieder 200'000. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie oder ich darunter sind, ist gar nicht so klein, wie Sie vielleicht meinen.
Fast jeder Mensch, der vor zwanzig Jahren auch andere Buchstaben als «FDP» oder «CVP» oder «SVP» kannte, wurde damals von den schnüffelnden Vollstreckern mit Sätzen wie «hat sein Rad vor den Veranstaltungsort der Kommunisten hingestellt und im Lokal ein Bier getrunken» für jede öffentliche Laufbahn kaltgestellt. Journalisten, Lehrerinnen, Beamte verloren aufgrund solcher Einträge ihren Job, wurden nicht befördert oder – wie in den meisten der Fälle - gar nicht erst angestellt. Obwohl meine gescheiterte Förderungsprofessur aus dem Jahre 2002 nun auf einen neuen Ficheneintrag zurückzuführen ist? Schliesslich soll die damals zuständige Nationalfondspräsidentin – gemäss Berichten, die mit Sicherheit zutreffender sind als die Inhalte auf den neuen Fichen - während meiner Evalution gezwitschert haben: «Diese Frau hat den akademischen Stallgeruch nicht.» Abgesehen davon, dass wie und nach welchem Stall eigentlich Akademikerinnen riechen sollten, völlig schleierhaft bleibt, entlarven solche Sätze das Mentalitätsgefängnis eines ganzen Staates.
Wenn nun die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments, notabene die Institution, die den Staatsschutz überwachen sollte, feststellt, dass letzterer lieber ihren Überwacher überwachte statt umgekehrt, dann stinkt Bundesbern im Vergleich zur erwähnten Akademikerin ohne Stallgeruch extrem stark. Doch niemanden verschlägt es über dieser Schnüffelstaatfäulnis so recht den Atem. Der «Arena» oder dem «Ziischtigsclub», den wenigen öffentlich-rechtlichen Gefässen in diesem Land, sind solche politische Stinkbomben nicht mal 'ne Sendung wert. Klar doch, lieber brüsten die sich mit Shawne Fielding, denn die riecht nicht nur besser, sie bringt auch mehr Quoten...
Argumentiert wird in der neuen Fichenaffäre mit einem Zynismus erster Güte. Heutzutage spiele es doch keine Rolle, wer was über wen wisse – schliesslich sei seit Facebook eh nichts mehr geheim. Wer also eine Cumuluskarte besässe, dürfe sich auch nicht über seine Akte beim Staatsschutz beklagen – so die Argumentation. Pustekuchen! Einmal mehr findet keine Unterscheidung öffentlich und privat statt. Es ist entscheidend, ob der Staat sich ein Bild von mir macht oder ich selber ein Bild von mir abgebe. «Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider Deinen Nächsten» – ist ein wichtiger Überlebenssatz. Denn falsche Zeugnisse (die nicht einfach ein Lügenverbot deklarieren, sondern die Menschen zur Wahrhaftigkeit gegenüber anderen aufrufen) zerstören mutwillig und bösartig den Ruf, die Integrität, die Unabhängigkeit eines Menschen. Eine Akte über eine unbescholtene Bürgerin anzulegen, deren einziges Verbrechen ist, zu denken, zu sprechen, zu schreiben und die politischen Rechte wahrzunehmen, ist nicht nur rechtswidrig, sondern menschenverachtend. Und für die betreffende Person äusserst bedrohlich.
Eine Fiche ist nicht einfach eine Cumuluskarte. Eine Fiche entscheidet über mögliche Karrieren, über Stipendien, über Beförderungen, über Auszeichnungen, über Einbürgerungen, über Ausschaffungen etc. Eine Fiche ist ein Eingriff in die Rechtsgleichheit und die Abläufe des Rechtsstaats. Eine Fiche ist Willkür. Deshalb gibt es ein scharfes Gesetz. Fichen dürfen nur über Verbrecher und Menschen, die für die Schweiz ein hohes Sicherheitsrisiko darstellen, angelegt werden. Über Bundesrat Merz sollte beispielsweise eine ganz dicke Fiche existieren, schliesslich bedroht kaum ein anderer unser Rechtssystem so wie unser Finanzminister. Doch wetten wir? Hans-Ruedi Merz hat sicher keine. Dafür der Sänger Udo Jürgens. Sie haben richtig gelesen: Udo Jürgens. Vielleicht hat dieser zu laut und zu «Griechischer Wein» gesungen? Und «Griechenland» ist ja auf André Blattmanns Verteidigungskarte rot eingefärbt, als möglicher Unruheherd, gegen den die Schweizer Armee eingesetzt werden sollte...
Die Schweiz sei, so der alte und starke Dürrenmatt, ein Gefängnis, in welchem die Gefangenen gleichzeitig auch die Wächter seien. Dürrenmatt hat vergessen hinzuzufügen, dass es in diesem Gefängnis auch noch beträchtlich stinkt.