Patrik Etschmayer / Freitag, 4. Februar 2011
Der Mensch scheint in der heutigen Welt immer mehr zum Objekt hinunter reduziert zu werden. In der Wirtschaft ist er Produktionsfaktor, in der Politik ist Mensch bestenfalls zum Stimmvieh. Schlimmstenfalls wird er zum Störfall reduziert und auch in der Wissenschaft sei ein Reduktionismus im Gange, der den Menschen zu einem Apparat aus Einzelteilen stutzen wolle.
Doch glücklicherweise zeigt genau diese Wissenschaft, wenn man versucht, hinter die von Politikern und Wirtschaftskreisen verwertbaren Schlagzeilen zu blicken, den Menschen als ein System, dass an Komplexität kaum zu übertreffen ist.
Neue wissenschaftliche Werkzeuge haben in der Medizin zum Beispiel dazu geführt, dass unser Organismus sich immer weiter vom vermeintlich genetisch homogenen Zellhaufen weg zu einem hochkomplexen Biotop hin verwandelt.
Zwar war schon lange bekannt, dass der Mensch wie jedes andere grössere Tier über eine Darmflora verfügt. Doch erst seit es möglich ist, diese Bakterien (von denen 80% nicht auf Petrischalen gezüchtet werden können) genetisch zu sequenzieren, hat sich den Forschern erschlossen, wie komplex und vielfältig unser Verdauungssystem bevölkert ist. Milliarden von Mikroben sorgen im Verein mit dem Körper in der Regel für ein Funktionieren der Verdauung, wobei vor allem die Vielfalt der anwesenden Bakterien sicherstellt, dass sich der Mensch gut fühlt.
Reizdarm und andere chronische Krankheiten der Verdauung sind meist auf ein gestörtes Gleichgewicht oder eine Artenarmut in der Darmpopulation zurück zu führen, Probleme, die vor allem auch nach Behandlungen mit Antibiotika auftreten können, welche die Darmflora regelrecht weg bombardieren können.
Seit kurzem wird experimental zur Behandlung schwerer Fälle die Besiedlung mit der Darmflora anderer Menschen durchgeführt. Scheinbar mit grossem Erfolg. Biodiversität ist also nicht nur in Urwäldern von grossem Nutzen sondern auch in Ihrem Bauch. Was kurz nach ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert als schädlich galt, wird heute als unentbehrlich zum Gesunden leben erkannt.
Genau so wie in diesem Fall bringen neue Untersuchungstechniken auch in anderen Forschungsrichtungen neue Einblicke. Und fast immer besagen die Erkenntnisse, dass der Mensch, die Natur und die Welt komplizierter sind als angenommen. Galt vor 10 Jahren noch, dass ein Erwachsener praktisch nichts grundsätzlich Neues mehr lernen kann, steht heute fest, dass das menschliche Hirn ein ganzes Leben lang in der Lage ist, neue Erkenntnisse zu sammeln und kreativ zu sein.
Ebenso betonen die vermeintlichen Könige des Reduktionismus, die Genetiker, dass die Chromosomen nur sehr beschränkt Aufschluss über das Schicksal eines Menschen geben kann. Es gibt nur wenige «Killer-Gene», die unweigerlich oder zumindest sehr wahrscheinlich zu einer Erbkrankheit führen. Sehr viele der in Zeitschriften gehypten «Krebs-Gene» und «Herzinfarkt-Gene» erhöhen hingegen die Chance einer Erkrankung nur um wenige Prozente.
Lebenswandel und -umstände, die psychische Situation einer Person, traumatische Erlebnisse: Sie alle können Einfluss darauf haben, ob Gene aktiviert und so einen Einfluss auf die betreffende Person haben werden. Die Illusion des berechenbaren Lebens ist genau das... oder gar ein Mittel, um mit populistischem Halb- und Viertelwissen Menschen zu diskriminieren. Gute Wissenschaftler betonen dies unablässig und warnen vor fahrlässigen Abkürzungen.
Wenn bereits der einzelne Mensch so unberechenbar unvorhersehbar ist, wie viel mehr muss das eigentlich für die menschliche Gesellschaft gelten? Der Glaube, dass simples Schablonendenken langfristige Lösungen bringen kann, sollte eigentlich (auch angesichts jüngster Entwicklungen) ad acta gelegt werden. Nur scheinen leider im Moment die Politiker und Wirtschaftsführer so einfach gestrickt, wie sie die Welt selbst gerne sehen...